Reflexion zu Governance und einer kooperativen Governance

Unternehmensskandale heute und in der Vergangenheit offenbaren immer wieder unternehmerische Fehlleistungen, moralische Entgleisungen und kriminelles Verhalten. Unsere mediale Gesellschaft reagiert darauf regelmäßig mit Skandalisierung, Stigmatisierung und dem Ruf nach drastischen Konsequenzen. Wirtschaften wir heute in einer Welt der Skandale? Sind Personen, die Unternehmen führen, per se schlechte Menschen? Sind Fehlleistungen die Regel? Darf es überhaupt Fehlleistungen geben?

Fehlleistungen sind materialisierte Abweichungen von einer Vorgabe. Die Möglichkeit, dass eine Vorgabe nicht erreicht wird, nennt man Risiko. Die Vorgabe kann übertroffen werden; das ist die Chance. Sie kann aber auch nicht erreicht werden, das ist die Gefahr oder gemeinhin das Risiko oder eben die Fehlleistung. Risiko wird in unserer Gesellschaft per se als schlecht perzipiert, ja die Risikonahme mehr und mehr pönalisiert. Wir leben in einer risikoaversen Gesellschaft. Unternehmerische Tätigkeit bedeutet aber gerade, Risiken einzugehen, unter Einsatz der eigenen personellen und finanziellen Ressourcen. Wer kein Risiko eingeht, kann nicht gestalten, sondern allerhöchstens verwalten. Innovation und volkswirtschaftliches Wachstum basieren auf dem Eingehen von (mehr oder weniger kalkulierbaren) Risiken.

Aber welches sind die Rahmenbedingungen für das Eingehen von Risiken? Setzen von Rahmenbedingungen ist Regulierung. Diese ist abhängig von der durch eine Gesellschaft gewählten Wirtschaftsverfassung. In liberalen Wirtschaftsverfassungen greift der Staat mit Regulierung primär in den Bereichen Informationsasymmetrien, Machtkonzentrationen und Machtmissbrauch sowie für die Allgemeinheit hochriskanten Tätigkeiten ein. Die heutige Regulierung geht aber in vielen Bereichen weit darüber hinaus. Die Vorgehensmuster sind dabei immer ähnlich. Die Freiheit des Unternehmers und seine Möglichkeit, Risiken einzugehen und dadurch Gewinne oder Verluste zu erwirtschaften, Arbeitsplätzezu schaffen und das volkswirtschaftliche Wachstum und den Wohlstand aller zu fördern, wird zunehmend eingeschränkt. Die Regulierung des Marktes wird heute mehr und mehr durch eine Regulierung der Unternehmensführung ergänzt. Corporate Governance ist im Kern Unternehmenssteuerung. „To govern“ im Englischen oder „gouverner“ im Französischen, bedeutet „steuern“. Dieses Steuern von Unternehmen kann anhand von Management-Modellen wie dem St. Galler Management-Modell begreifbar gemacht werden. Am Ende ist es ein Navigieren in Spannungsfeldern zwischen Anspruchsgruppen und verschiedenen Umweltdimensionen, voll von Antinomien und Paradoxa. Es ist das Bewegen einer Matrix, die wir aus der Quantenphysik kennen. Die steuernde „intelligente Kraft“ der Quantenphysik in dieser Matrix als Unternehmensführung? Diese steuernde „intelligente Kraft“ im Kontext unternehmerischer Tätigkeit findet man schon im über 4000 Jahre alten Gilgamesch Epos oder beim ehrbaren Kaufmann der Renaissance.

Die Regulierung der Unternehmensführung oder die Steuerung der Governance, die „Governance der Governance“, kennt eine Vielzahl von Paradigmen: von Principal-Agent, über Stewardship, Stakeholder, Resource Dependency, Global Governance bis hin zum New Governance Paradigma. Realität ist heute, dass unabhängig vom Paradigma einfach alles reguliert sein will, im Detail und gleich reguliert, dass Frei- und Risikoräume geschlossen werden, unternehmerische Tätigkeit einer Kausalhaftung unterstellt und strafrechtlich sanktioniert werden.

Folgen daraus sind die zufällige Formation der normgebenden Institutionen mit entsprechenden Legitimationsfragen, fehlende Rechtssicherheit, „one size fits all“, das Klumpenrisiken schafft, anstatt sie zu verhindern. Durch die Förderung einer unterdurchschnittlichen Mittelmäßigkeit wird das Innovationspotential begrenzt und die unternehmerische Risikonahme aufgegeben. Unternehmenssteuerung gestaltet nicht mehr, sie verwaltet nur noch.

Es braucht ein Umdenken!

Eine unternehmerische Denkweise, ein unternehmerisches Paradigma des Navigierens in einer Matrix entlang von Spannungsfeldern ist ein Ansatz für das Steuern von Unternehmen (Governance) und dessen Regulierung („Governance der Governance“). „Governance der Governance“ als Meta-Konzept versteht sich dabei als Leitplankenordnung für eine integrierte Governance. Sie akzeptiert unternehmerische Risikonahme und auch die Materialisierung des negativen Risikos, des Scheiterns, und des Erzielens von Fehlleistungen. Sie schafft explizit unternehmerische Freiräume – Sandboxen für innovative unternehmerische Risikonahme – und stellt diesen adäquate unternehmerische Verantwortung gegenüber. Sie stellt den Menschen in den Mittelpunkt (Behavioral Governance).

„Governance der Governance“ fördert Diversität, während Gleichschaltung zu Klumpenrisiken und unterdurchschnittlicher Mittelmäßigkeit führt. Die Natur macht den Erfolg der Diversität evident. Wir brauchen Diversität in den zur Verfügung stehenden unternehmerischen Plattformen und Diversität in der Governancegestaltung. Eine erfolgreiche Volkswirtschaft basiert auf Diversität.

Die individuelle unternehmerische Governancegestaltung und die Diversität in der Meta-Governance müssen auf der Identität, der DNA der gewählten Unternehmensform basieren. Nur so können Unternehmensplattform und Unternehmenssteuerung reibungslos in einander greifen.

Als alte Wirtschaftsform, als kooperatives und kollektives Unternehmertum, wo der Mensch im Mittelpunkt steht, hat die Genossenschaft vor dem Hintergrund des heutigen Zeitgeists einen modernen Platz in dieser Diversität. Mehrdimensionale Werte- und Nutzenschaffung, realwirtschaftliches Primat, lokale Verankerung und überregionaler Vernetzung, demokratische Entscheidungsfindungs- und Kontrollprozesse, nachhaltige Finanzen und eine spezielle Innovationsfähigkeit aufgrund typischer Identität von Anspruchsgruppen sind Aminosäuren einer kooperativen DNA.

Reflektieren wir diese kooperative DNA vor dem Hintergrund moderner Governance-Anliegen: Das Bedürfnis einer Ausrichtung auf nachhaltige Unternehmensinteressen findet sich in der mehrdimensionalen Werte- und Nutzenschaffung zugunsten der Mitglieder und der anderen relevanten Anspruchsgruppen sowie der nachhaltigen Finanzierung durch weitestgehende Thesaurierung wieder. Die Ausrichtung des Unternehmens, nicht ausschließlich an den Interessen der Investoren und das Konzept einer Corporate Social Responsibility, spiegeln sich einerseits in der mehrdimensionalen Werte- und Nutzenschaffung, anderseits im realwirtschaftlichen Primat wider, das die Anspruchsgruppen direkt an der realen Wertschöpfungskette teilhaben lässt, sowie in der lokalen Verankerung und der überregionalen Vernetzung der Genossenschaft. Die Forderung nach der Stärkung der Rechte der Unternehmenseigner ist in der demokratischen Partizipation durch „one person, one vote“ materialisiert. Ebenso die Einforderung von Kontrolle und Transparenz. Die Sicherung von Marktanteilen und die Sicherung des langfristigen Bestehens des Unternehmens durch Anpassung an Kundenbedürfnisse zeigt sich in der lokalen Verankerung mit ihrer Kundennähe und der speziellen Innovationsfähigkeit aufgrund typischer Identitäten von Anspruchsgruppen wie Mitglied/Kunde, Mitarbeiterin/Mitglied, Lieferant/Mitglied/Kunde etc., was ein bemerkenswertes Innovationsspannungsfeld erzeugt. Vielleicht ist sogar die eine oder andere Facette der kooperativen Governance auch für andere Unternehmensformen überdenkenswert.

Der ganze Beitrag aus der „Zeitschrift für das gesamte Genossenschaftswesen“ (ZfgG, 67,4) als PDF